In den 90ern gaben die Innenminister von Bund und Ländern tatsächlich ein Computerspiel in Auftrag. Es wurde im Rahmen der groß angelegten Fairständnis-Kampagne kostenlos verteilt, auf Diskette. Auch ich bekam damals ein Exemplar in die Hand gedrückt. Fast 30 Jahre später schaue ich mir Dunkle Schatten erneut an.
Anfang der 90er-Jahre ließ sich das Ausmaß rechter Gewalt in den damals so genannten Neuen Bundesländern wie auch im Westen der Republik immer schlechter ignorieren. Nicht nur in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Solingen wurden Menschen von neurechten Wendeverlierern und Nazihools des Ruhrgebiets ausgegrenzt, verprügelt und in letzter Konsequenz auch verbrannt. Bomberjacken und Springerstiefel gehörten vielerorts zum Straßenbild. Der Begriff Baseballschlägerjahre fasst diese Zeit leider gut zusammen.
Ich war damals noch ein paar Jahre zu jung, um die Zusammenhänge zu begreifen, sah meine Lieblingsfußballer aber mit der Trikotaufschrift Mein Freund ist Ausländer in der Bundesliga. Kurze Zeit später, am 26. März 1993, startete die umfangreiche Fairständnis-Kampagne, mit Plakaten in vielen Städten, Anzeigen in diversen Zeitschriften und mehreren Fernsehspots im ZDF. Mit dem Slogan “Fairständnis – Menschenwürde achten – Gegen Fremdenhaß” sollten vor allem Jugendliche für Vielfalt und demokratische Prinzipien sensibilisiert werden.
Ein weiterer Baustein der Medienkampagne war das kostenlose PC-Spiel Dunkle Schatten, das von der Art Department Werbeagentur GmbH aus Bochum erstellt wurde und im Laufe der Zeit noch zwei Fortsetzungen erhielt. Art Department zeigte sich später für massive Hits wie Moorhuhn und Gothic verantwortlich, da gehe ich am Ende des Artikels noch ausführlicher drauf ein.
Dunkle Schatten: Karsten und Tarzan-Deutsch
Bei Dunkle Schatten handelt es sich um ein einfach gehaltenes Point-and-Click-Adventure im Stile seiner Zeit. Protagonist ist ein 16-Jähriger mit dem möglicherweise langweiligsten Namen aller Zeiten, Karsten Wegener. Es gilt, ihm und seinen deutschen Freunden beim Aufbau eines Jugendzentrums zu helfen und dabei alle, wirklich alle Jugendwörter des Jahres 1994 abzuhaken. Schon damals luden die Texte zum Fremdschämen ein, heute ist der Cringe-Faktor um ein vielfaches höher, wie sollte es anders sein.
Im Spiel sind die Rollen präzise und unverrückbar festgelegt, es gibt helles Licht und dunkle Schatten, Seitenwechsel finden nicht statt. Für die Ausarbeitung von Grauzonen fehlte vielleicht die Zeit oder möglicherweise auch einfach der politische Wille. Karsten und seine Freunde stehen auf der richtigen, die Nazis auf der falschen Seite, dazwischen gibt es nichts, nicht mal Leere ist zu finden.
Der Mordanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen im Mai 1993 wird aufgegriffen, aber dann doch nicht weiter verarbeitet. Weiter als die Frage, wer denn so etwas macht, kommt das Spiel nicht. Ob ein kostenloses Point-and-Click einer Werbeagentur mehr leisten kann oder in diesem Fall sogar muss, weiß ich nicht. Das abgebrannte Haus wird gezeigt und der Anschlag von Karsten verurteilt. Polizei und Staatsanwaltschaft kommen nicht vor. Ermittlungen finden nicht statt.
Die im Spiel vorkommenden Ausländer (zwischen eingewanderten Personen und der nachfolgenden, in Deutschland geborenen Generation wird nicht unterschieden) besitzen ausnahmslos gute Eigenschaften und sind freundlich gestimmt. Die Älteren müssen leider Tarzan-Deutsch reden, wie bei Angst essen Seele auf in den 70ern (“Er nix gut”), die Jüngeren wiederum haben kein Problem mit Karstens Frage, warum sie “so gut Deutsch können”, was als positives Merkmal gelungener Integration gewertet wird. Das Spiel legt fast zwanghaft fest, wer hier nun Deutscher und wer Ausländer ist.
Frauen kommen vor und haben einen Textanteil von gefühlt 2 Prozent. Die Mutter von Karsten wird ausschließlich spülend gezeigt und sorgt sich sonst um das Wohlbefinden des Sohnes, der ohne zu essen besser nicht das Haus verlässt. Umso überraschender ist es dann, als die namenlose Frau genug vom Vater hat und verschwindet. In einer späteren Szene verpasst der Vater Karsten eine Ohrfeige. Häusliche Gewalt wird anschließend ausführlich mit einem extra herbeigerufenen Sozialarbeiter (“Was ist eigentlich ein Streetworker?”) ausdiskutiert. Die nach wie vor namenlose Mutter kehrt zurück und spült weiter.
Den stärksten und auch Jahrzehnte später noch einprägsamsten Moment hat das Spiel, als die wirklich dunklen Schatten thematisiert werden. Jugendliche mit Baseballschlägern sind als Speerspitze der Gewalt sehr greifbar, doch dahinter, im Verborgenen, nur schemenhaft zu erkennen, sitzen die Leute, die den Hass ermöglichen, ihn gesellschaftlich akzeptabel machen, ihn legitimieren. Es sind Väter und Onkel, es sind Nachbarn und Bekannte, es sind ihre Sprüche, die in diesen Jahren ebenso beiläufig fielen wie heute. Mit der Schere im Kopf sitzen sie da, bestätigen sich gegenseitig, geben sich mit den einfachsten Antworten auf schwierigste Fragen zufrieden.
Dunkle Schatten kam zur richtigen Zeit, wählte das passende Medium, war zugänglich, aber eben auch nicht mehr als ein aktionistischer, irgendwie naiver Versuch. Mit einem Abstand von fast 30 Jahren lässt sich das einfach sagen, doch auch 1994 dürfte die Absicht des Spiels zwar klar erkannt, aber letztlich nur belächelt worden sein. Nazis mit zwei, drei Argumenten in die Flucht zu schlagen, mag mit viel Mühe dem erhofften Zeitgeist entsprochen haben, hat aber weder damals noch heute etwas mit der Realität zu tun.
Hier könnt ihr das Spiel in voller Länge anschauen:
Weiter ging es mit Moorhuhn, Gefängnis, AfD
Für Art Department, den Entwickler von Dunkle Schatten, stellte das Spiel einen der ersten größeren Erfolge dar. Ein Jahr später meldetet sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit einem ähnlichen Auftrag. Das Ergebnis war Hilfe für Amajambere, ein White-Savior-Adventure.
Extrem durch die Decke ging es dann 1999, als Art Department das Werbespiel Moorhuhn veröffentlichte und bundesweit Büros lahmlegte. Zu Art Department gehörte damals auch die Unterfirma Greenwood Entertainment, woraus wiederum Piranha Bytes ausgegliedert wurde, das mit den Gothic-Spielen die wohl wichtigste jemals in Deutschland produzierte Rollenspielreihe erschuf.
In der Dotcom-Phase schaffte es Art Department, mittlerweile in Phenomedia umbenannt, auf einen Börsenwert von 400 Millionen Euro. Die hervorragenden Geschäftszahlen dieser Zeit waren aber einer besonders kreativen Buchführung zu verdanken, wofür der Gründer und Vorstandschef Markus Scheer am Ende der Party zu einer Haftstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt wurde.
Als vorbestrafter Bilanzfälscher war der Weg in die Politik für Scheer dann fast schon vorprogrammiert. Zwischenzeitlich war er als Sprecher des AfD-Kreisverbands Bochum tätig, mittlerweile hat er die Partei verlassen. Je nach Sonnenstand sind dunkle Schatten mal länger und mal kürzer.
Die Bundesregierung als Game Publisher, das hat auch Charme.
Irgendwie musste ich heute über dieses Spiel als Kindheitserinnerung nachdenken. Dabei bin ich über diesen Blogbeitrag gestolpert. Super interessant, vielen Dank dafür!