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The Listening Project – und 50.000 weitere Geräusche

Hey Listen

Zum Internetunterhaltungskanon gehört wohl seit vielen Jahren die Konversationssammlung belauscht.de, auf der Spitzohren zufällig gehörte Gespräche posten können. Eine grundsätzlich wunderbare Idee, wenn sie denn funktioniert. Das Gehörte ist oft amüsant, öfter jedoch wohl ein wenig zu amüsant. Ob sich das Gespräch wirklich so zugetragen hat? Wie auch beim ungleich prolligeren smsvongesternnacht.de, das die volle Verwertungsschiene fährt, oder dem einst bei IRC-Veteranen beliebten german-bash.org sind die Einreichungen natürlich nicht verifizierbar. Und ohne den Kontext, die Stimmlage, die Umweltgeräusche, die Gesamtsituation also, bleibt immer das Gefühl, etwas zu verpassen. Warum also nicht direkt die Gespräche archivieren?

Hey! Listen!

Die in ihrem Einfallsreichtum nimmermüde BBC hat seit einiger Zeit eine tolle Aktion am laufen: Mit dem Listening Project bittet Radio 4 seine Zuhörer darum, ein privates Gespräch ihrer Wahl aufzuzeichnen und hochzuladen – diese werden stets vor den Nachrichtensendungen eingespielt. Eine Step-by-Step-Anleitung soll helfen, dass möglichst viele Bevölkerungsschichten erreicht werden und diese ihre Gespräche auch hochladen.

Das mag vielleicht spröde klingen, kann aber auch sehr faszinierend sein. Joe Moran vom Guardian ist jedenfalls fasziniert, wenn zwei Rentnern die Tränen kommen, weil ihre Keksfabrik schließt, ein Frau ihrer Tochter von ihren zehn Schwangerschaften erzählt oder ein Obdachloser sich dankbar zeigt, weil er nach stundenlanger Wanderschaft ein Sandwich geschenkt bekommt. Außerdem hat die schlichte Ablichtung des Alltags in Großbritannien Tradition: Die 1964 gestartete Dokumentation 7 Up! schaut alle sieben Jahre nach, wie die damals sieben Jahre alten Kinder inzwischen leben und geht dieser Tage in die achte Runde.

http://www.youtube.com/watch?v=ngSGIjwwc4U

Der wahre Wert des Listening Projects wird sich aber vielleicht erst in ferner Zukunft zeigen. Zusammen mit der British Library sollen die Gespräche von Experten bewertet, eingeordnet und archiviert werden. Dadurch soll zukünftigen Generationen ein Bild des typischen Privatlebens der heutigen Gesellschaft erhalten bleiben, auf dass sich Archäologen in ferner Zukunft nicht einzig auf Scripted Reality-Formate aus dem Fernsehen stützen müssen.

Und bei dieser Gelegenheit soll generell einmal auf das wundervolle Tonarchiv der British Library hingewiesen werden. Mittlerweile sind dort 50.000 Geräusche „aller Coleur“ (ಠ_ಠ) versammelt. Alleine 1091 Amphibienlaute finden sich dort, darunter Klassiker wie *ribbit* oder *squid*. Kartenfetischisten können die Geräusche gar auf einer interaktiven Karte anzeigen lassen. So sind Aufzeichnungen von Holocaust-Ãœberlebenden über ganz Europa verteilt. Desweiteren findet man dort Musik, ganz Unwahrscheinliches wie Leuchtturmsignale aus den 80er-Jahren oder historische Reden. Eine Schatztruhe für jeden mit offenen Ohren.

Die wohl älteste Tonaufnahme der Welt, eine Aufnahme des französischen Kinderliedes Au clair de la lune aus dem Jahr 1860, bereitet mir übrigens seit einigen Jahren Albträume:

Au clair de la lune

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